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Heidelberger Tribunal

Am 19. November 1971 gab es eine Erörterung im Heidelberger Lokal „Molkenkur“; sie wurde zu einer verlorenen Schlacht für die gS-Befürworter. Die 7stündige „Erörterung“, wenn man das so nennen will, wurde von zwei Gerichtsstenographen mitgeschrieben; und es gibt ein Tonband. Einen zusammenfassenden Eindruck gibt Peter Schmidsberger in seinem Buch Skandal Herzinfarkt[*1], als PDF-Datei hier. Wir geben hier das zweite Kapitel:

Kapitel 2: Wie man ein Spektakel inszeniert

Die Stimmung im Höhenrestaurant „Molkenkur“ über den Dächern Heidelbergs war frostig und unfreundlich, sie schien dem Wetter dieses Tages angepaßt. Der 19. November 1971 hatte den ersten Schnee des Jahres gebracht, es war trüb und feucht, die angesagte Hochwetterlage sollte einen Kaltlufteinbruch bringen.

Von der stuckverzierten Decke des Saales hingen blaue Vorhänge herab; doch obwohl man sie nicht zugezogen hatte, war von der „weltberühmten Aussicht“ ins Neckartal nicht viel zu sehen. Aber das kümmerte keinen der Anwesenden.

Das Höhenrestaurant war 1851 dort erbaut worden, wo früher das alte Heidelberger Schloß gestanden hatte. Als Dr. Berthold Kern nachmittags gegen drei Uhr an der Tagungsstätte eintraf, stellte er überrascht fest, daß an dieser sogenannten Klausurtagung mindestens 150 Personen teilnahmen. Es war überhaupt manches anders, als er es sich gedacht hatte. Erste Überraschung: Professor Ernst Wollheim aus Würzburg, von der einladenden Partei als Moderator benannt, lehnte es ab, sich an die Vereinbarung zu halten, wonach wechselweise er und ein Vertreter der IGI die Gesprächsleitung innehaben sollten. In einem kurzen Disput weigerte er sich grundsätzlich, den Vorsitz abzugeben.

In der Auseinandersetzung um diesen Punkt erwiesen Kern und seine Mitstreiter erstmals ihr taktisches Unvermögen. Der von ihnen gestellte Moderator nahm es hin, am Tisch des Vorsitzenden nur geduldet zu sein. Zu Wort kam er nicht. Als er Professor Wollheim Feuer für dessen Zigarre anbot, knurrte der Kliniker: „Von ihnen nicht, Herr Kollege!“ Er war nicht bereit, mit einem Anhänger Kerns auch nur äußerlich konventionellen Kontakt aufzunehmen.

Ein Schlaglicht nur, und doch grell genug, um die Situation zu beleuchten. Dr. Kern konnte sich zusammenreimen, was ihm blühte, noch bevor Professor Wollheim die Tagung geschäftsmäßig kühl eröffnete.

Danach verlas der Gesprächsleiter eine Passage aus einer Veröffentlichung von Dr. Kern und fragte ihn: „Habe ich Sie richtig zitiert und Ihre Meinung hier richtig vertreten?“

Dr. Kern versuchte, aus dem aufgezwungenen Protokoll auszubrechen. Er ging nicht auf die Frage ein, sondern gab seiner „Freude darüber Ausdruck“, daß „endlich, endlich nach langer Zeit eine Diskussion in Gang“ komme, schnitt schließlich selbst eine Fachfrage an. Doch so einfach ließ sich der alleinherrschende Moderator das Heft nicht aus der Hand nehmen. Er machte sofort klar, daß Dr. Kern auf den Ablauf der Veranstaltung nicht im mindesten Einfluß nehmen dürfe:

„Moment, Kollege Kern, auf diese Frage kommen wir nachher. Ich glaube, wir kommen sonst nicht mit dem Programm durch, wenn wir uns nicht an die Thematik halten.“ Und sofort darauf der Versuch, Dr. Kern in die Enge zu treiben: „Habe ich dies korrekt wiedergegeben, oder sind Sie mit dieser Meinung nicht mehr identisch?“

Er sprach, als wollte er um Entschuldigung bitten

Noch fügte Dr. Kern sich nicht, noch zeigte er keine Bereitschaft, sich einfach ins Verhör nehmen zu lassen. Aber er sagte nicht etwa: „Herr Kollege, ich glaube, wir müssen uns zuerst einmal darüber verständigen, wie wir hier verfahren wollen. Wie stellen Sie sich den Verlauf dieser Diskussion vor, welche Schwerpunkte wollen wir herausarbeiten? Ich glaube, das ist das erste, worauf wir uns einigen müssen, wenn wir zu einem gedeihlichen Ergebnis kommen wollen.“

Statt dessen machte er den Eindruck, als wiche er der direkten Frage aus, und er sagte so lahm, als wollte er sich entschuldigen: „Damit Sie sehen, wie ich auf diese Dinge gekommen bin, darf ich Ihnen vielleicht einen kurzen Abriß geben über meine wissenschaftlichen ...

Im Auditorium wurde es unruhig, und Professor Wollheim unterbrach: „Herr Kollege Kern, ich glaube, wir können voraussetzen, daß alle Teilnehmer sich auf dieses Kolloquium vorbereitet haben, das heißt, daß sie Ihre Schriften gelesen haben und damit also über Ihren Weg orientiert sind.“

Schon nach diesem kurzen Intermezzo mußte Professor Wollheim die Gewißheit gewonnen haben, daß alles nach Generalstabsplan ablaufen werde. Dr. Kern hatte seine Ungeschicklichkeit, sich in Rede und Gegenrede zur Wehr zu setzen, schon in seinen ersten Sätzen so eindringlich demonstriert, daß es die Professoren, die er seit Wochen angegriffen hatte, geradezu reizen mußte, ihren Widersacher unglaubhaft zu machen.

Mit inquisitorischem Geschick wußte als erster Professor Gillmann solche Schwächen zu nutzen, und Dr. Kern gab eine ziemlich unglückliche Figur ab, als der Ludwigshafener Chefarzt ihn mehrmals darauf festzulegen versuchte, daß Arteriosklerose die Blutgefäße nach Kerns Auffassung tatsächlich nicht enger mache: „Stehen Sie zu dem, was Sie immer wieder gesagt haben?“

Dr. Kern war nicht imstande, klarzumachen, daß die Frage falsch gestellt war. In seinem Hauptwerk „Der Myokardinfarkt“ hatte er ausführlich dargestellt, daß sogenannte Atherome keine Verengung der Gefäße bewirken, hatte aber dieser Form der Arteriosklerose andere, die Blutströmung hindernde Krankheitsprozesse gegenübergestellt, die er Verschlußkrankheiten nannte. Als er jetzt auf diesen Sachverhalt hinwies, geschah es in beinahe flehentlichem Tonfall, und was er sagte, klang wirr und hatte keine Überzeugungskraft. Professor Gillmann unterbrach: „Stehen Sie dazu, ja oder nein?“ Dr. Kern sah in solchen Situationen keinen anderen Ausweg, als um Verständnis zu bitten: „Meine Herren, ich bin doch nicht aus Bilderstürmerei oder aus Skepsis oder Querköpfigkeit oder paranoider Besserwisserei dazu gekommen, sondern bin einfach gezwungen worden durch die Praxis, durch die Erfahrungen. Ich weiß nicht, ob ich nun endlich einmal diesen...“

Die Kern-Explosion fand nicht statt

Professor Wollheim fiel ihm ins Wort: „Herr Kern, würden Sie vielleicht auf die Frage von Herrn Gillmann antworten?“ Die Zuhörer mußten den Eindruck gewinnen, daß er sich um die Antwort drücke, daß er sich seiner Sache nicht mehr sicher sei und nur nach einem Hintertürchen suche, um wieder aus dem Schlamassel herauszukommen, das er sich eingebrockt hatte. So konnte Professor Gillmann triumphierend dartun: „Darf ich feststellen, Herr Kern, daß Sie sich korrigiert haben?“

Von den im Saal Anwesenden waren mindestens zwei Drittel gegen Dr. Kern voreingenommen. Eine starke Hundertschaft war gegen den Mann angetreten, der seit Jahren ihr Wirken und ihr Ansehen in Frage gestellt hatte, zuletzt sogar lautstark in aller Öffentlichkeit. Und die Wucht der öffentlichen Meinung hatte den Störenfried jetzt gleichsam mitten vor die feindlichen Bataillone katapultiert. Doch war es keine geballte Sprengladung, die hier auf der „Molkenkur“ jeden Augenblick zu explodieren drohte, es war nicht mehr als eine Knallerbse.

Dr. Kern hatte damit rechnen müssen, daß seine Brandreden nicht ohne Folgen bleiben würden. Er mußte darauf gefaßt sein, daß man ihn nicht mit Glacehandschuhen anfassen würde. Der Boxweltmeister Cassius Clay hatte sich sein berühmtes Großmaul nur deswegen leisten können, weil er hart zuzuschlagen verstand. Aber als Dr. Kern in den Ring stieg, erwies er sich schon beim ersten Schlagabtausch als ein Amateur. Der Härte und den Tricks der Professionales hatte er wenig entgegenzusetzen.

Da stand er nun vor der Zuschauerschaft, die ihn kalt, ja feindselig musterte. Weißhaarig, im dunklen Anzug, mit sanfter Stimme und gleichmäßigem Tonfall bot er der geschlossenen Front alles andere als den Eindruck eines Revolutionärs. Er redete viel, aber niemand hörte ihm so recht zu. Es war weder überzeugender Ausdruck noch Überzeugungskraft in seinen Worten. Die Lektüre des von zwei Gerichtsstenographen festgehaltenen Protokolls vermittelt nicht den richtigen Eindruck – der schriftlich fixierte Text bringt die Argumente Dr. Kerns viel eindrucksvoller zur Geltung, als es der Klang seiner Stimme vermochte. Aber an Argumenten schienen die Veranstalter ohnedies nicht sonderlich interessiert zu sein.

Zumindest nicht an Gegenargumenten. Dafür sorgte der Moderator „... der Mann, der allen Parteien das gleiche Recht angedeihen läßt“, wie er es zu Beginn der Sitzung dargestellt hatte. Jedes Recht aber wird von Gesetzen hergeleitet, und das Gesetz, unter das Professor Wollheim sein Wirken als Universitätsprofessor gestellt hatte, war die „koronare Durchblutungsstörung“ als Ursache des Herzinfarkts. Es war nicht zu erwarten, daß er am Ende seiner Laufbahn von dem Abstand nehmen würde, was er sein Leben lang im Hörsaal, auf Kongressen, vor Gericht vertreten hatte.

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*1 Peter Schmidsberger, Skandal Herzinfarkt, Percha am Starnberger See 1975, ISBN 3-7962-0061-3, als PDF-Datei herunterladbar unter http://www.ihresicherheit.eu/index.php?option=com_docman&task=doc_download&gid=12&Itemid=50